Archiv-Nr. 79R38 / Laufzeit: 8h 23min
„Wie entsetzlich ist es eigentlich, dass die Religionen sich so oft als Vertröster auf ein Jenseits aufspielen. Es bedeutet die Aufgabe eines Lebenssinnes in der Welt. Man sucht dann nach weltlichen Aufgaben, befindet sich aber in einer schwachen Position den weltlichen Mächten gegenüber und wird auch als überflüssig oder ziemlich unwichtig abgelehnt. Dennoch könnten die Religionen gerade aus den Quellen ihrer Herkunft dem Leben im Diesseits das Schönste schenken, nämlich den Sinn dieses Diesseits, den Sinn des Alltags. Die verheerende Spaltung des Lebens ist die Folge eines tragischen Missverständnisses.
Es geht hier darum, zu versuchen, das Missverständnis aufzudecken und den Weg zu einem nicht nur sinnvollen, sondern damit auch zu einem erfreuenden Diesseits zu finden. Es gibt diesen Weg, und dass er unerkannt blieb, macht die Freude des Wiederentdeckens noch größer. Auch in uns blieb er unerkannt und hielt sich verborgen.“ (Friedrich Weinreb)
In diesen Vorträgen berührt Weinreb den Kern seines Lebens- Werks: Wie sind Jenseits und Diesseits religiös und zugleich menschlich bis in den Alltag hinein zu verbinden? Er stellt damit Fragen nach einer religiösen Lebenskunst, Lebenshaltung, Lebensform oder besser: einer religiös bestimmten Lebensweise.
Weinreb hat hier zudem aus seinen Zürcher Vorträgen der Jahre 1974 bis 1977 mit dem Titel „Die Josefsgeschichte I-III, anhand der hebräischen Texte und Überlieferungen“ Wesentliches zusammengefasst.
Ausgehend von den Geschichten Abrahams und lsaaks, Jakobs und Esaus geht es ihm hier vor allem um das Verhältnis zwischen Josef und seinem Bruder und Gegenspieler Juda. In diesen großen biblischen Ur-Mythen liegen Grundstrukturen des Menschlichen verborgen, und Weinreb geht es zunächst darum, diese den ZuhörerInnen näherzubringen.
Während die heutige virtuelle Bildschirmkultur uns eher gegen solche Geschichten und Bilder abschirmt (einnimmt), öffnet Weinreb im gesprochenen Wort Fenster um Fenster zu einer ganz anderen, geträumten Wort-Wirklichkeit. Wenn sich der Zuhörer für diese Dimensionen öffnet, entsteht eine andere Sichtweise und die Welt erscheint anders. Dabei sehen wir vielleicht klarer, wie das Diesseits oft nur noch zum vor-Ur-teil-haften Gebrauch da ist, d.h. aus der Optik der jüdischen Überlieferung; dass wir Josef (als Möglichkeit eines Diesseits, dass ein Geheimnis enthält) tatsächlich verkauft (aufgegeben) haben.
Dieses Problem wird hier der Juda-Josef Konflikt genannt und es fragt sich, wie nun dieser Konflikt zu lösen ist.
Weinreb bietet dafür keine Rezepte und Erklärungen an, sondern führt immer weiter in diesen Urkonflikt hinein. Er zeigt dabei auf, warum unsere theoretisch-abstrakte Seite mit Konkretem, mit Gefühlen und Stimmungen zunächst nichts zu tun haben will.
Mit dieser Verweigerung hängt vermutlich zusammen, dass viele Menschen heute trotz technisch-materialistischer Vernetzung – nicht nur innerlich – zu verhungern drohen. In den eigenmächtig konstruierten Netzen gibt es eben keine Fische; auf Umsatzgipfeln und Konsumgüterbergen keine wunderbare Brotvermehrung. Etwas, das sich nicht so leicht benennen lässt fehlt. Wie finden wir aus dieser Sackgasse einer ungestillten Sehnsucht – heraus?
Es könnte uns wie Juda etwas Neues ins Bewusstsein kommen, das durch diese Vorträge naheliegend wird: Um wirkliche – inspirierende – Nahrung zu bekommen, müssen wir zu Josef nach Ägypten hinuntergehen. Nur dort kann offenbar erfahren werden, wie gut mit Nahrung umgegangen werden kann; wie sich die Fülle des Lebens zur Magerkeit des Todes verhält. Das Geheimnis gilt es also dort zu suchen, wo wir es am wenigsten erwarten: in der ägyptischen Gefangenschaft.
Die heutigen Sinn-Suchprogramme verfehlen Weinrebs religiösen Erlebnisreichtum. Sinnsuche und Sehnsucht können nicht programmiert werden. Die Navigationskraft von Weinrebs lebendigem Erzählen führt zudem weg von der kühlen Wohlstands-Esoterik, weg von unverbindlicher Spiritualität, also weg von einer Trivialisierung der Sehnsucht. Aber wohin führt sie?
Sie könnte tatsächlich nach Ägypten führen, da es hier, im Diesseits, Bedingung zu sein scheint, sonst wird das Leben ein Schwanken zwischen Diesseits und Jenseits, wo wir von beiden Seiten ein wenig Fast-Food knabbern, ohne richtig satt zu werden.
Wenn die Brüder nach Ägypten kommen, erkennen Sie Josef nicht. D.h.: wir verstehen die Grundlage der Welt bislang nicht. Das Diesseits (Josef) jedoch hatte – wie Weinreb wortwörtlich sagt – das arrogante Jenseits (Juda) schon lange erkannt.
Nochmals – anders formuliert – die Frage:
Wie kommen wir aus den grauen Inselzonen in uns heraus; von denen aus wir unser Leben so überheblich betrachten und den Lebens-Kontakt verhindern?
Vielleicht indem wir plötzlich bemerken, dass wir – trotz allem – vom Vater geliebt sind und wir (wie Josef) einen bunten Rock erhalten. Wir erlauben uns dann die Farbigkeit, die Vielfalt einer Welt in Liebe zuzulassen. Und erleben zunehmend die Zusammenhänge, die Beziehungen, die Verbindungen.
Oder vielleicht auch Folgendes: Der Mensch hat „Nahrung“ gefunden und ist zwar satt, aber nicht befriedigt. Etwas Wesentliches fehlt immer noch und zum Glück geschieht dann Merkwürdiges: Dieser vollgestopfte Mensch wird verhaftet und weiß genauso wenig wie Kafkas Josef K., warum? Es wird ihm gezeigt, dass er den Kelch des Königs im Gepäck hat. In dieser schwierigen Lage beginnt erstaunlicherweise die Wiederentdeckung einer anderen Lebensweise.
Die Geschichte entscheidet sich hier, weil Juda – nun selbst im Absteigen begriffen – erlebt, was Leiden ist. Er und der Mensch im Bild, Juda, erkennt nun das eigene Leiden in einem Mit-Fühlen mit sich selbst, was zu Mitleid mit den Anderen führt. in dieser Geschichte bewirkt dieses Erkennen die Verbindung zwischen Juda und Josef.
Erst wenn Juda sich für Benjamin „opfert“, findet die Wende statt und kann der Hunger (nach Sinn, Liebe) wirklich gestillt werden, gibt es erfüllende Nahrung. Die steht im krassen Widerspruch zum Zeitgeist, wo im narzisstischen Rückzug der Mitmensch nicht mehr vorkommt und es in der Seele, solange modert bis alles religiöse Gefühl verschimmelt ist.
Weinreb dagegen zeigt hier, was das Menschsein bestimmen könnte: In der Verantwortung für den anderen Menschen kann erst die Freude der Einheit erlebt werden. Eine ethische Grundhaltung, wie sie auch vom jüdischen Religionsphilosophen Lévinas formuliert worden ist.
Für die (Lebens-)Kunst liegen hier wichtige Ansätze wegzukommen vom heutigen Kunst-Entertainment. Wenn wirkliche Bezogenheit da ist, ist dies der beste Nährboden für jegliche Kunst. Von der Malerei her sind Fra Angelico und Mark Rothko gute Beispiele solcher Kunst.
Weinrebs Erläuterungen und Lebenshaltung führen nicht zu neuen Utopien oder Ideologien, sondern zum einfachen Leben, wo das Kleinste, Unbedeutendste im Menschen – vielleicht als zarte Regung – spürbar und im Alltag entscheidend wird. Das erkannte Diesseits, in der Verbindung von Josef und Juda, lebt so in der Welt: im Leiden und in der Freude mit und für den anderen Menschen, mit und für Gott.
Das ist das Thema der Lebensform. Am Schluss geht Weinreb darauf ganz konkret ein. Seine Sprache und sein Erzählen basieren auf einer Lebensform, die sich nicht als die einzig Wahre propagiert.
Die Einheit von Diesseits und Jenseits (Juda und Josef) im Leben zu integrieren, zur Quelle einer inspirierten Lebensweise werden zu lassen, verwandelt zum wirklichen, freudigen Menschen.
Inhalt:
- Alltag, Geschichten und Theorie. Juda und Josef. Die vier Flüsse. (69.41)
- Gottesbeziehung. lsmael. Ungeduld. Die Opferung lsaaks. Zorn und Sanftmut auf dem Weg. Jakob – Esau. (71.46)
- Isaaks Segen. Das schlechte Gewissen. Dina. Rahel und Lea. Fruchtbarkeit. Konflikte. Der bunte Rock. (67.23)
- Josefs Träume. Josef in Dothan. Das Hinuntergehen nach Ägypten. Was ist Frucht? Josef im Gefängnis. Brot und Wein. Die drei Ebenen im Wort. (68.44)
- Der Rausch des Fließenden. Die Begegnung mit dem Pharao. Von der Nahrung in Ägypten. Der unerkannte Josef. (67.58)
- Der Wert des Kelches. Der Leib in Gosen. (70.36)
- Entfaltung und Verborgenheit. Die Bundeslade. Das Erkennen des göttlichen Funkens. (45.08)
- Schimon bar Jochai. Das Hinnehmen der Welt. Das Böse. Das Leben – lassen des Wortes. (42.48)